Positionspapier CDU/CSU Barrieren …

Anmerkungen zu Barrierefreier Bahnverkehr

Ich möchte auf das Positionspapier „Barrieren abbauen – Bewusstsein schaffen – Teilhabe sichern – 10 Punkte für einen inklusiven Sozialraum“ hinweisen, das auf www.cducsu.de (PDF-Datei Positionspapier CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag vom 08.11.2022, 420 kb, 21 Seiten) nachzulesen ist.

Wie es wohl darin um die mich besonders interessierenden Punkte Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), Schienenpersonennahverkehr (SPNV) und Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) bestellt sein mag? Mit geringen Erwartungen bin ich an den Text heran gegangen. Kurzum, es ist weit schlimmer, als befürchtet:

  • Schwerpunkt Einstiegshilfen statt niveaugleicher Einstieg,
  • weiterhin eingeschränktes Reisen durch eingeschränkte Service-Zeiten,
  • Bahnsteighöhen auf die unterschiedlichen Einstiegshöhen der Züge angleichen (nicht anderes herum!) und dabei Unkenntnis der Funktion von Aufgabenträgern des SPNV durchblicken lassen.

Damit nicht genug. Peer-Beratung? So sollen Menschen mit Behinderungen andere Menschen mit Behinderungen durch den Tarif-Dschungel leiten. Außerdem spricht sich die CDU/CSU-Fraktion für steilere Rampen als nach DIN 18040-1 zulässig aus, weil es die auch andernorts gäbe.

Nein, ich habe mir nicht den ganzen Text zugemutet. Obwohl ich sonst gerne und viel lese. Heraus gepickt habe ich mir das Thema „II. 2 Barrierefreier Bahnverkehr“. Vier Aufzählungspunkte und zwei Absätze sind dazu enthalten.

Darin wird zum Beispiel gefordert „Einbau fahrzeuggebundener Einstiegshilfen“ - der ICE 3neo von Siemens und der Deutschen Bahn ist also ganz im Sinne dieses Dokuments und seiner Autoren. Man kann zwar an keiner Tür ohne Stufen in den Zug, aber eine fahrzeuggebundene Einstiegshilfe in Form eines Lifts ist eingebaut. Von den Abmessungen der Lift-Plattform mal abgesehen - was bringt die denen, die nur schlurfend laufen können, einen Rollator nutzen, einen Kinderwagen dabei haben oder schwere Koffer? Natürlich nichts.

Im Zusammenhang mit dem „Deutschlandtakt“ kommt im Dokument zum Thema Barrierefreiheit insbesondere „ausreichende Umsteigezeiten“ vor. Daneben steht dazu nichts mehr, doch eigentlich war das schon daneben genug.

Ein weiterer Punkt beschäftigt sich mit „zusätzlichem Servicepersonal an allen Fernbahnhöfen“ und die „Erhöhung der Präsenzzeiten auf 6 bis 24 Uhr“ und „an großen Hauptbahnhöfen“ sogar „einen 24-Stunden-Betrieb des Servicepersonals“. Wer sich mit der Thematik nicht beschäftigt, wird das vielleicht für einen Ansatz halten. Vor ein paar Tagen stellte ich jemandem dazu die Frage, mit welchem der Züge der Mensch im Rollstuhl wohl morgens von Göttingen nach Frankfurt (Main) Hauptbahnhof fahren würde, mit dem ICE 591 für 23,90 EUR um 05:54 Uhr oder dem etwa eine Stunde später für 29,90 EUR (Preise für ein zufällig ausgewähltes Datum; Stand beim Eingeben dieser Zeilen: der frühere kostet jetzt 26,90 EUR, der spätere 39,90 EUR mit der „Wichtigen Information in den Verbindungsdetails“, nach der der Zug in Göttingen wegen einer Umleitung nicht hält; für diesen Unsinn in der digitalen Welt (auch das Positionspapier nennt das Schlagwort Digitalisierung) ist nicht die Fraktion verantwortlich, das schaffen auch andere). Mit Blick auf die Servicezeiten wird es der spätere Zug bleiben, schon wegen der Hilfeleistung. Die Reisezeit nicht selbst bestimmen dürfen hat für die Betroffenen zusätzlich einen Kostenaspekt, der den Schreiberlingen des Positionspapiers aber offenbar unbekannt oder egal ist. Was davon wäre besser?

So wenig soziales Gespür, da könnten mit 24-Stunden-Betrieb sogar die Arbeitsbedingungen des dort beschäftigten Personals gemeint sein. Wenn Personal für die mangels barrierefreier Lösungen zu nutzenden Einstiegshilfen nötig ist, muß das zu den Zeiten zur Stelle sein, zu denen Züge verkehren. Zu all diesen Zeiten. Alles andere ist von Barrieren abbauen – Bewusstsein schaffen – Teilhabe sichern meilenweit entfernt. Das Positionspapier geht in Richtung Barrieren … sichern. Daher der Titel dieser Seite.

Zum Bahnsteighöhenkonzept wurde - so meine Sicht - schon viel Unsinn verbreitet. Im Positionspapier wird der ergänzt um „Bahnsteighöhen auf die unterschiedlichen Einstiegshöhen der Züge“ angleichen - das zäumt das Pferd von hinten auf. Das Langlebige an das Kurzlebige anpassen?! Die erwähnten „privaten Bahnunternehmen“ kommen derzeit ganz überwiegend im SPNV vor - und dort geben Aufgabenträger vor, welche Eigenschaften die einzusetzenden Züge am Einstieg haben sollen. Im SPFV privater Bahnunternehmen und auch bei Nachtzügen setzen die Anbieter auf Altfahrzeuge und reizen in Sachen Barrierefreiheit in aller Regel den Bestandsschutz aus.

Als vierten Aufzählungspunkt gibt es: „Wir setzen uns dafür ein, dass Fahrkartenautomaten barrierefrei zugänglich sind.“ So einen Automaten habe ich erst diese Woche bei einer Begehung angetroffen. Barrierefrei zugänglich - außer für Blinde, weil nicht an das taktile Bodenleitsystem angeschlossen und für Sehbehinderte trotz vorhandener Sprachausgabe kaum benutzbar. Der nicht taktil beschriftete SOS-Taster wurde auf der Suche nach dem Aktivieren der Sprachausgabe versehentlich gedrückt. Zugegeben, im Positionspapier steht auch etwas von auf „Nutzbarkeit für Menschen mit Sinnes- und kognitiven Beeinträchtigungen zu achten“. Ich habe darauf geachtet, das Grüppchen aus Menschen mit Behinderungen hat bei der genannten Begehung darauf geachtet. Es reicht nicht, so zu formulieren. Wenn ein Gesetz verlangt, daß ein Plan für einen Umbau vorgelegt werden muß, werden solche Pläne erstellt werden. Wenn man sich fragt, wo die Umsetzung bleibt, werden die Berater längst erkannt haben, daß Pläne vorlegen allein rechtlich bereits vollständig genügt.

Regelrechter Unsinn ist „Dabei sollten wo immer möglich Menschen mit Behinderungen als Berater für andere Menschen mit Behinderungen ("Peers") eingesetzt werden.“ Das steht da nämlich zu „…Beratung und für die Fahrkartenausgabe“. Ist das Peer-Beratung nach dem CDU/CSU-Verständnis? Menschen mit Behinderungen sollen andere Menschen mit Behinderungen den Tarif-Dschungel erklären?

Damit der Unsinn nicht zu plötzlich endet, fordert die CDU/CSU-Fraktion auch gleich noch steilere Rampen als in der DIN 18040-1 vorgesehen, weil das in der Schweiz möglich ist. Auf einer solchen Rampe in einem Bahnhof in Zürich ist mein Rollstuhl-Antrieb schon mit Hitzefehler ausgefallen. Auf flacheren Rampen andernorts passierte das noch nie. Von solchen Lösungen schwärmen die, die nicht darauf angewiesen sind - und Abgeordnete, die sich das Zuhören sparen.


unterm Strich

10 Punkte“ steht im Titel des Positionspapiers, als Bewertung sind für diesen Abschnitt null Punkte mehr als genug.


Noch ein paar Anmerkungen

Beim zweiten Vorkommen der Formulierung „kognitiven Beeinträchtigungen“ im Text wird das mit „d.h. des Gehirns“ erklärt. Ob den Lesern klar ist, worauf sich „Fahrgastinformation“ im Satz „In den Bahnhofshallen oder bei der Fahrgastinformation bedarf es taktiler Modelle der Bahnhöfe“ bezieht? Man könnte bei Wikipedia nachschauen, was deren Autoren unter Bahnhofshalle und Fahrgastinformation verstehen und sich fragen, in welchen Bahnhöfen und wo dort demnach diese Modelle genau dort vorgesehen werden sollen. Was bedeutet „Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen benötigen die wichtigsten Informationen z.B. der Deutschen Bahn oder regionaler Verkehrsanbieter in Leichter Sprache“ für die Reise mit dem Nachtzug? Unter „Barrierefreie Elektromobilität“ wird „ausreichender Bewegungsspielraum für Rollstuhlfahrer“ gefordert. Spielräume sind sicherlich wichtig, der bei Wikipedia im Artikel Straßenquerschnitt beschriebene Bewegungsspielraum ist wohl nicht gemeint. Bewegungsfläche kommt in den DIN der Reihe 18040 mehrmals vor.

Nein, nicht alle Ansätze erscheinen mir nach dem Stöbern im übrigen Text ganz verkehrt. Allerdings wäre es bei dem Thema des Positionspapiers durchaus möglich gewesen, qualitativ etwas auszuarbeiten, was mit den einleitenden Worten von menschenrechtlichen Verpflichtungen und dem christlichen Menschenbild besser zusammen paßt. Als Beleg erwähne ich die obigen Ausführungen zu Verkehrs-Themen und das unter „VIII. Bewusstsein schaffen – Barrierefreiheit als Ausbildungsinhalt“. Natürlich ist es wichtig und zielführend, junge Menschen in den Zeiten der Ausbildung zu erreichen. Als Inhalt in die Weiterbildung gehört das Thema ebenso wie deshalb der Begriff Weiterbildung in die genannte Überschrift. Typisch für wenig reflektierte Betrachtung ist die Sicht, Architekten und der Bereich der Medizin seien die Berufsgruppen, bei denen das Bewusstsein geschaffen werden müßte. Die Formulierung „Architekten- und Ingenieursausbildung“ in einem Absatz, der sich ansonsten nur mit dem Architekturstudium auseinander setzt, greift nicht wirklich. Überspitzt gesagt steht eine Zielgruppe in der Zeile über dem Datum auf dem Deckblatt. Dann könnte das nächste solche Positionspapier lesenswert sein.


(bk, 2022-11-20)

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