Verteilung der Vorrangsitze im Mireo

Sitzplätze für Mobilitätseingeschränkte

Bei der S-Bahn Rhein-Neckar sind nun die neuen Triebzüge des Typs Mireo (oder auch Baureihe 463) vom Hersteller Siemens im Einsatz. Worüber die Behinderten-Vertreter in der Region mit DB Regio und mehr noch den Aufgabenträgern sprechen (wollen)? Die Liste ist lang, derzeit 23 Punkte.

Jede einzelne Barriere hat ihre Auswirkungen. Eine Reihenfolge nach Wichtigkeit sehe ich hier deshalb nicht. Auf dieser Seite geht es um Vorrangsitze, genauer gesagt um deren Verteilung im Triebzug.

Wer sich mit der Thematik noch nicht beschäftigt hat, wird sich fragen, was es denn mit diesen Vorrangsitzen auf sich hat. Regelungen finden sich in der Verordnung (EU) Nr. 1300/2014 der Kommission vom 18. November 2014 über die technischen Spezifikationen für die Interoperabilität bezüglich der Zugänglichkeit des Eisenbahnsystems der Union für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität - kurz gesagt der TSI PRM.

Im Abschnitt 4.2.2.1.2. Vorrangsitze wird viel dazu geregelt, allem voran die Anzahl (zehn Prozent aller Sitzplätze) und die Kennzeichnung der für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität vorgesehenen Sitze.

Kennzeichnung von Vorrangsitzen

Zehn Prozent der Sitzplätze pro Wagenklasse müssen es sein. Mit zwei von acht Sitzplätzen in der 1. Klasse und 24 von 192 Sitzplätzen in der 2. Klasse ist das in diesem Fall gemäß einer Zeichnung in einem früheren Datenblatt locker erfüllt.

Der Grundsatz lautet "Vorrangsitze müssen mindestens über dieselbe Ausstattung verfügen wie normale Sitze" und ausdrücklich "Vorrangsitze dürfen keine Klappsitze sein".

Daneben gibt es reichlich Vorgaben zu Abmessungen. Für die Breite ("mindestens 450 mm" nutzbare Breite der Sitzfläche), zur Höhe der Vorderkante der Sitze über dem Boden (wegen dem Aufstehen auch von weniger Kräftigen), der lichten Höhe darüber (wegen dem Anstoßen des Kopfes), für den Fußraum. Außerdem gibt es Vorgaben zur Sichtbeziehung zu Displays, die müssen von mindestens "51 Prozent der Vorrangsitze" gelesen werden können.

Zur Lage im Zug gibt es ebenfalls Vorgaben, allerdings keine wirklich detaillierten. "Die Vorrangsitze müssen sich im Fahrgastraum und in der Nähe der Außentüren befinden." Wirklich weit weg von Türen, ab wann greift das? In der Vorschrift wurde daran gedacht, daß in der Mobilität eingeschränkten Menschen nicht so weite Wege zugemutet werden sollen. Bei zwei Einstiegsbereichen je Wagenteil eines rund 70 Meter langen dreiteiligen Triebzuges sind die Entfernungen überschaubar. "In doppelstöckigen Wagen oder Zügen können auf beiden Decks Vorrangsitze vorhanden sein" - diese Vorgabe macht klar, daß Treppenstufen auf dem Weg vom Einstiegsbereich zu den Vorrangsitzen sein dürfen. Gefordert werden Stufen allerdings nicht.

Es gibt für Deutschland und Dänemark einen Sonderfall bezüglich der Kennzeichnung in Zügen, bei denen die Reservierung von Plätzen vorgeschrieben oder möglich ist. Wieso das so ist, welchen Sinn das für die Mobilitätseingeschränkten hier macht? Gründe liegen eher nicht bei der Frage des Nutzen für Behinderte sondern in der Entstehungsgeschichte der Norm und den Interessen der daran Beteiligten. Für den Mireo macht das keinen Unterschied, solange keine Platzreservierung möglich ist.

Und dann war da die Formulierung "Rampenfreier Zugang zum Universal-WC" in einem Datenblatt des Herstellers aus dem Jahr 2018. Ich stutzte, da mußte ich genauer hinschauen. Da es zwischen Einstiegsbereich und Rollstuhlplatz eine (zulässige) Rampe abwärts gibt und man nur zum einzigen WC im Zug kommt, wenn man diese (oder die auf der anderen Seite der Toilette) passiert, war ich irritiert. Was auch immer der Werbe-Sprech bezwecken sollte, im Mittelgang des Triebzuges gibt es sechs Stellen mit je zwei Stufen und von den Einstiegsbereichen zur Mitte der drei Wagenteile jeweils (zulässige) Rampen. Rampenfreier Zugang?! Stufenfreier Zugang?!

Stufen im Mittelgang, eine von sechs solcher Stellen pro Triebzug

Das Abzählen in der Zeichnung ergibt: Die Verteilung über die Zuglänge ist keineswegs gleichmäßig: Im Endwagen mit dem Abteil 1. Klasse gibt es zusammen 18 Vorrangsitze, im Mittelwagen keinen einzigen Vorrangsitz, im anderen Endwagen acht Vorrangsitze, in der Summe 26 Vorrangsitze.

Ergebnis: Von keinem der Vorrangsitze ist das Universal-WC im Zug stufenfrei zugänglich. Wie Sie den vorangegangenen Zeilen entnehmen konnten, ist das aus Sicht der TSI PRM durchaus in Ordnung (man nennt das normgerecht), nicht relevant für die Zulassung. Bei der Überlegung, welchen Zweck diese Vorrangsitze haben sollen - eben für die da zu sein und bei Bedarf frei gegeben zu werden, die in ihrer Mobilität eingeschränkt oder Behinderte sind, verwundert dieses Resultat schon. Um es klar zu stellen: es geht mir nicht um alle Vorrangsitze, nur ist "von keinem der Vorrangsitze für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität ist das Universal-WC im Zug stufenfrei zugänglich" mir doch zu wenig. War dieses Ergebnis Absicht? Wenn ja, schlimm. Wenn nein, dann sollte man da nochmals dran gehen und das verbessern.

Im Mittelwagen beim Universal-WC gibt es auf einer Seite die beiden Rollstuhlplätze mit den beiden Sitzplätzen für Begleitpersonen, alternativ Platz für zwei Fahrräder (noch ohne Kennzeichnung für die Anzahl) und einen Sitz quer zur Fahrtrichtung mit dem Fußraum in einem seitlichen Gefälle und Blick auf den Schrank mit der Rollstuhlrampe. Auf der anderen Seite der Universal-Toilette gibt es sieben reguläre Sitzplätze und einen Bereich für sechs Fahrräder oder Klappsitze. Alle anderen Bereiche im Zug sind ab der Universal-Toilette nur über mindestens zwei Stufen im Mittelgang zugänglich, also nicht stufenfrei.

Wer auf der Website des Herstellers oder bei einem Artikel wie "Mireo gewinnt Deutschen Nachhaltigkeitspreis Design" etwas von der innovativen Bauweise / dem Konzept der leeren Röhre gelesen hat, wird vermuten, Vorrangsitze an eine andere Stelle im Triebzug zu verschieben sei eine leichte Übung. Aber Achtung: wenn jeder Zentimeter verplant ist und durch unterschiedlich hohe Bereiche gegliedert ist - daher die Stufen und Rampen - dann ist das so beschriebene Objekt eher kein durchgängiges Rohr. Dann wird da erst mal nichts aus "Der Innenraum ist flexibel über die gesamte Lebensdauer hinweg gestalt- und anpassbar". So flexibel nun auch wieder nicht?

lok-report.de - Mireo gewinnt Deutschen Nachhaltigkeitspreis Design

Wird bei Ihnen in der Region in Zügen auf die geschickte Anordnung der vorgeschriebenen Vorrangsitze im Zug und darauf geachtet, ob das im genannten Sinn für die vorgesehenen Benutzer dieser Plätze praktisch ist? Wenn ja: gut. Wenn nein: dann könnten Sie an Hand dieses Beispiels erklären, wieso das eben nicht im Sinne der Barrierefreiheit und der vorgesehenen Benutzer dieser Plätze gelöst ist.

Wie lange wird es noch dauern, bis die Behinderten darauf vertrauen dürfen, daß Barrierefreiheit von Anfang an mit gedacht wird? Ohne frühzeitige Beteiligung solcher Organisationen der Behinderten, die sich mit der Thematik schon beschäftigt haben, wird das nichts.

Wer jetzt etwas nachschlagen will - den Text der TSI PRM auf Deutsch mit allem, was dort zu Vorrangsitzen geregelt ist, finden Sie über folgenden Link: eur-lex.europa.eu - TSI PRM auf Deutsch (pdf-Datei, 69 Seiten).


(bk, 2021-08-14)

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